Das erste Trauerjahr

Das erste Trauerjahr

Gibt es eine Ablaufzeit für Trauer? Gesellschaftlich betrachtet, wird häufig davon ausgegangen, dass das erste Jahr nach dem Tod eines geliebten Menschen das Schwerste ist und es danach leichter wird. Doch weshalb besteht diese Annahme? Ist es so, dass wenn wir alle besonderen Tage, wie Geburtstage, Jahrestage, Feiertage und Jahreszeiten einmal ohne den geliebten Menschen erlebt haben, alles anders und leichter wird?

Alleine diese Erwartung an sich selbst, dass alles einfacher und der Schmerz nach einem Jahr weniger wird, führt oftmals zu einem unbewussten Druck und folglich zu einem Gefühl der Enttäuschung, wenn dem nicht so ist.

Mit dem Todestag, der sich das erste Mal jährt, wird der Schmerz über den Verlust und die Erinnerungen an den geliebten Menschen meist nochmals sehr intensiv wahrgenommen. Meist noch intensiver als am eigentlichen Todestag selbst. Schon Tage zuvor kreisen die Gedanken zu diesem Tag und der Schmerz ist wieder so präsent wie vor einem Jahr.

Denken wir an die Trauer der ersten Tage, so erinnern wir uns vielleicht daran, dass wir den Todestag und die darauffolgenden Tage wie durch einen Schleier wahrgenommen haben. Nichts schien real, unsere Gefühle vielleicht noch etwas zugedeckt von all dem, was es zu organisieren und zu tun gab. Noch nicht ganz fähig zu verstehen, dass unser geliebter Mensch nun gestorben ist, stolpern wir durch den Alltag und scheinen mehr, als dass wir wirklich sind. Freunde, Familie und Angehörige sind zwar präsent, mögen aber den Schmerz nicht zu mildern.

Nach der Beerdigung kommt die Stille, eine Zeit, in der das Fehlen der geliebten Person überall wahrgenommen wird. Sei das durch dessen Kleider und persönliche Gegenstände oder aber auch einfach durch den Alltag, der einfach nicht mehr wiederzuerkennen ist. Eine ganze Palette von Gefühlen breitet sich in uns aus. Das gewohnte Leben ist nicht mehr da, alles scheint anders. Nebst Gefühlen der Trauer, die Traurigkeit,  Wut, Ängste und Schuldgefühle beinhalten kann, kommen möglicherweise auch Fragen der finanziellen Sicherheit hinzu. Was ändert sich alles? Welche Schritte sind notwendig?

Im Innen wie im Aussen ist alles anders.

Es ist ein Eintreten in eine andere Welt, die es erst einmal zu entdecken gilt. Wie lebe ich in einer Welt, die von Trauer dominiert wird? Es ist eine Zeit, die Kraft und Energie verlangt und von jedem von uns anders gelebt wird. Da gibt es kein Richtig oder kein Falsch.

In der Welt der Trauer ändern sich vielleicht auch unsere Gewohnheiten und Interessen. Menschen, die uns nahestanden, entfernen sich,  andere Menschen treten in unser Leben. Wir suchen andere Orte auf. Orte, die neu sind und nicht an die alten Zeiten mit dem geliebten Menschen erinnern. Es ist ein Annähern an Neues, Unbekanntes, das Trösten aber auch Verunsichern kann.

Jeder Tag, jeder Monat gilt es anzunehmen, wie er ist. Wie Wolken am Himmel, kommen und gehen auch unsere Gefühle. Manchmal mögen wir die Sonne sehen oder erahnen, an anderen Tagen ist es nur dunkel. Kein Licht, kein Lächeln, kein lieb gemeintes Wort kann uns erreichen.

Nach einer gewissen Zeit, haben wir einen neuen Alltag gefunden, wir haben unsere Leitlinien und Sicherheitsnetze, die uns Halt und Schutz geben.

Gedanken an den geliebten Menschen mögen bei uns nun vielleicht auch ein Lächeln auf die Lippen zaubern. Eine neue Verbindung bahnt sich an. Unmerklich spüren wir, dass die Liebe auch ohne der  Präsenz des geliebten Menschen einen Weg zu uns findet.

Indem wir die Trauer annehmen und durchleben, entdecken wir Wege und Möglichkeiten, den Verlust so in unser Leben einzubetten, dass wir mit ihr leben können, mal besser, mal schlechter.

Die zu Beginn gestellte Frage, ob Trauer ein Ablaufdatum hat oder die Trauer nach einem Jahr vorbei ist, kann ich nur verneinen.

Das erste Jahr ohne den geliebten Menschen ist meist geprägt von so viel Schmerzhaftem, so viel Trauer und so viel Neuem, dass wir meist damit beschäftigt sind, uns in dieser neuen Welt zurecht zu finden.

Mit dem Jahrestag beginnt dann meist eine Zeit, in der wir mit etwas Abstand zu verarbeiten beginnen. Wir haben eine gewisse Stärke wiedergefunden, die es uns erlaubt, wieder ein Stück des Weges weiterzugehen. Die Trauer bleibt, hat sich aber vielleicht verändert. Sie ist und bleibt Ausdruck unserer tief empfundenen Liebe und Dankbarkeit für all das Schöne, das wir mit der geliebten Person erleben konnten.  

Tränen werden weiterhin fliessen, lassen dann aber auch wieder ein Lächeln erscheinen, sei es durch eine schöne Erinnerung aber auch durch das Leben selbst, das es zu leben Wert ist.

Trauer ist und bleibt der Weg, der gegangen werden muss, um den Verlust eines geliebten Menschen verarbeiten zu können. Eine Kraft, die in uns steckt und uns dazu befähigt, weiterzugehen.